22/2023, 05.04.2023

"Spitzensport erfordert kontinuierliche Anpassungen"

Olaf Tabor verstärkt zum 1.4.2023 als neuer Vorstand Leistungssport den DOSB. Der 52-Jährige war zuvor über zehn Jahre Hauptgeschäftsführer des Deutschen Alpenvereins (DAV). Mit der DOSB-Presse spricht Tabor über Algorithmen, Agenturen und die Voraussetzungen und Bedingungen für einen erfolgreichen Spitzensport.  

Olaf Tabor, Sie haben den DAV auf dem Weg von einem nicht-olympischen zu einem olympischen Spitzenverband mitgestaltet. Jetzt sieht Ihre Jobbeschreibung die Weiterentwicklung der gesamten Leistungssportlandschaft vor. Was steht ganz oben auf der To-Do-Liste?  

Ich steige unmittelbar zu Beginn einer der wichtigsten Weichenstellungen zur Leistungssportstruktur auf Bundesebene in meine neue Tätigkeit ein. Daher werde ich mich intensiv mit dem vorliegenden Grobkonzept für die künftige Spitzensportförderung zu beschäftigen haben, dem nach meinem Eindruck Offenheit und grundsätzliche Zustimmung entgegengebracht wird. Die Hauptaufgabe für die nächsten Monate wird es sein, die enthaltenen Ideen auszudifferenzieren und daraus ein Konzept zu entwickeln, das dazu beiträgt, vor allem den beiden großen neuen Instrumenten, dem Sportfördergesetz und einer noch auszugestaltenden Agentur, auf die Welt zu helfen. 

Diese Strukturanpassung ist aus meiner Sicht eine wichtige Voraussetzung, um mit der Sportförderung wieder in ruhigeres und vor allem auch erfolgreicheres Fahrwasser zu kommen. Das Sportfördergesetz, die Agentur und eine umfassende Entbürokratisierung der Prozesse stellen für mich eine notwendige Voraussetzung für eine wieder positivere sportliche Entwicklung dar. Allerdings sorgen sie nicht aus sich selbst heraus dafür, irgendetwas erfolgreicher, weniger bürokratisch oder besser zu machen. Erst nach der strukturellen Ausgestaltung wird sich in der Praxis zeigen müssen, ob die mit dieser Reform verbundenen Erwartungen tatsächlich erfüllt werden können. 

Weniger Bürokratie – das ist eine Debatte die momentan im ganzen Land quer über alle Politikthemen geführt wird. Wo bremst Bürokratie den Sport? 

Aus meiner Sicht hat eine gezieltere und flexiblere Förderung wesentlichen Einfluss auf die künftige Leistungsfähigkeit der Verbände bzw. Institutionen im Leistungssportsystem – damit auch unmittelbar auf die Athletinnen und Athleten. Bei diesem Thema haben wir noch Luft nach oben. Aus meiner Zeit als Verbandsvertreter habe ich miterlebt, dass es parallel zu wachsenden Fördermitteln immer auch wachsende Ambitionen gegeben hat, den Mitteleinsatz stärker zu regulieren. Das ging zu Lasten flexibler Steuerungsmöglichkeiten u.a. bei den Spitzenverbänden, die der Sport allerdings unbedingt braucht. Spitzenleistung ist eben nicht programmierbar und künftige Ergebnisse können nur bedingt durch Algorithmen prognostiziert werden. Gute Konzepte und akribische Planung sind unverzichtbare Werkzeuge für einen professionellen Trainings- und Wettkampfbetrieb, aber am Ende zeigt die tägliche Praxis, dass unzählige Einflüsse kontinuierliche Anpassungen erfordern. Dann wird aus Planen Navigieren, schließlich haben wir es immer mit speziellen Menschen und wechselnden Situationen zu tun. Ich höre aus fast allen Sportarten, dass es auch aus bürokratischen Gründen immer schwieriger geworden ist, flexibel und situationsangemessen auf sich ändernde Umfeldbedingungen zu reagieren. So habe ich das zuletzt auch in der Individualsportart Klettern erlebt. Die bürokratischen Vorgaben aus der Bundesmittelförderung vor den Olympischen Spielen in Tokio habe ich vielfach als ein zu starres Korsett für die notwendigen sportlichen Entwicklungen wahrgenommen. 

Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen?  

Das olympische Wettkampfklettern hat sich innerhalb kürzester Zeit mehrfach verändert und im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Athletinnen und Athleten geradezu explosionsartig entwickelt. Es haben sich schnell neue technische und motorische Herausforderungen gestellt, in der weltweiten Szene und im Umfeld entwickelte sich kurzfristig neues Know-How und auch die olympische Disziplin selbst war eine Neu-Erfindung. Um in der Weltspitze dabeizubleiben, mussten wir kontinuierlich Trainingskonzeptionen anpassen, Trainingsinhalte aktualisieren und Wettkampfplanungen ergänzen. Diese Anpassungen mit den formalen Anforderungen der Bundesmittelförderung zu synchronisieren, war dabei eine vergleichbar große Herausforderung, zumal alles, was hemmt und bremst, schnell zu einem Wettbewerbsnachteil werden kann.  

Eine andere Facette, die für alle Sportarten gilt: Unsere Förderung bezieht sich auf olympische Zyklen, denkt sozusagen in Vierjahresrhythmen. In der Realität gibt es dann aber bei den Aktiven höchst individuelle Entwicklungswege, Brüche in der sportlichen Kontinuität, sportliche und psychologische Tiefs, Plateaus in der Leistungsentwicklung, private Sondersituationen. Die Entwicklungen von Athletinnen und Athleten vollzieht sich daher nicht in diesen Rhythmen. Ich glaube, da haben wir bei aller Berechtigung für eine wissenschaftliche Leistungsprognose ein wenig den Blick auf die Individualität der Sportarten und Disziplinen verloren, die wir aber unbedingt brauchen, damit es in der Leistungsentwicklung insgesamt wieder aufwärts geht.  

Von Individualität und Menschenbild ist es nicht mehr weit bis zu der Frage, welchen Leistungssport wir wollen? 

In der Auseinandersetzung mit meiner neuen Rolle habe ich mir zahlreiche veröffentlichte Papiere und zurückliegende Beschlüsse zu dieser Frage angesehen. Gefunden habe ich immer ein „sowohl-als-auch“: Wir wollen Dritter im Winter oder Fünfter im Sommer werden bei Olympia, und gleichzeitig wollen wir die Vielfalt und Breite der Sportlandschaft in Deutschland bestmöglich fördern. Für mich steckt in dieser Dualität ein Teil des Problems. Um im internationalen Vergleich auf Spitzenniveau wieder erfolgreicher zu werden, ist aus meiner Sicht auch eine gezieltere Schwerpunktsetzung nötig. Zur Antwort auf Ihre Frage gehört aber auch die Gegenfrage: Wie bewegt ist unser Land? Theoretisch müsste Deutschland bei der Suche nach Talenten in den unterschiedlichen Sportarten und als Land mit gut 84 Millionen Einwohnern eigentlich allerbeste Voraussetzungen haben. Die Statistik aber spricht gegen uns, weil sich in der nachwachsenden Generation immer weniger Kinder und Jugendliche bewegen. Wer keinen Sport treibt, kommt auch nicht in die Nähe eines Wettkampfes. Von den übrigen Auswirkungen mal ganz abgesehen. 

Dann müsste Ihnen die gemeinsame ReStart-Kampagne mit dem BMI gerade Recht kommen, die Sportvereine dabei unterstützt, die Pandemiefolgen besser zu bewältigen. 

Da sie gemeinsam mit allen anderen Initiativen wie Sportentwicklungsplan und Bewegungsgipfel dazu beiträgt die Bevölkerung für Bewegung zu begeistern – ja, definitiv. Diese Programme werden hoffentlich auch bei den ganz wesentlichen Fragestellungen, z.B. zum Schulsport, weiterhelfen. Sie dürfen keinesfalls eine einmalige Aktion bleiben. Vielmehr wäre eine Verstetigung dieser Initiativen auch für die Talentfindung und die generelle Bewegung und Aktivitätsbereitschaft in diesem Land sehr wünschenswert. Die offenkundig problematischen Entwicklungen allein in den drei Corona-Jahren wird man nicht in drei aktiven Jahren wieder repariert bekommen. Ich hoffe sehr, dass ReStart kein Strohfeuer und kein Tropfen auf dem heißen Stein bleiben wird, sondern der sich bereits abzeichnende Erfolg die Politik motiviert, zu einer dauerhaften Finanzierung solcher Maßnahmen und Aktivitäten zu kommen.  

Brauchen wir ein Zentrum für Safe Sport? 

Wenn man sich die Anzahl und Schwere der öffentlich gewordenen Fälle aus der jüngeren Vergangenheit ansieht, dann brauchen wir das im Sport. Jeder dieser Fälle macht betroffen und jede neue Enthüllung führt uns das Leid der Betroffenen vor Augen. Auch wenn in den Organisationen des Sports bereits viel getan wurde, wissen wir, dass es noch Schutzlücken gibt. Ein Zentrum für Safe Sport kann dabei helfen, diese Lücken zu schließen und angezeigten Missständen auf den Grund zu gehen. Unabhängig davon werden wir auch im organisierten Sport weitere Anstrengungen unternehmen müssen, um Vergangenes aufzuarbeiten, um Intervention und Prävention weiter zu stärken. Daran arbeiten wir intensiv und werden in diesem Jahr unter Federführung der Deutschen Sportjugend (dsj) einen Zukunftsplan Safe Sport entwickeln. 

Auch die Sportförderung soll in eine Agentur ausgelagert werden - welche Rolle spielen dort der organisierte Sport und welche die Politik?  

Für die Zukunft sollen u.a. die bisherige Finanzierungsfunktion des Bundesinnenministeriums und die Steuerungsfunktion des DOSB in eine neue, unabhängige Agentur überführt werden. Wo bisher zwei Institutionen zuständig waren, wird es dann nur noch eine geben. Während Politik und Sport weiterhin gemeinsam den strategischen Rahmen vorgeben, soll die operative Umsetzung in der Verantwortung der Agentur liegen. Gleichzeitig wird eine Verschlankung der Verfahren und eine Digitalisierung sowie Entbürokratisierung der Prozesse angestrebt. Dieser von Bund, Ländern und Sport sehr ernst gemeinte erste Schritt, die strukturelle Aufstellung des Leistungssports in Deutschland zu modernisieren, stellt für mich zusammen mit dem Sportfördergesetz und der angestrebten Entbürokratisierung der Verbändeförderung eine wesentliche Grundlage für nachhaltige Verbesserungen dar. Die eigens für diesen Prozesse initiierte Bund-Länder-Sport AG hat ihre vielversprechende Arbeit kürzlich aufgenommen.     

Während die Spitzensportförderung auf neue Grundlagen gestellt wird, laufen zeitgleich die Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele 2024. Welche Erwartungen haben Sie? 

Wenige Tage nach Dienstantritt darf ich da noch zurückhaltend sein. Es wäre zu wünschen, dass wir die herausragenden Erfolge in den nicht-olympischen Sportarten bei den letzten World Games 2022 konservieren und den negativen Trend der zurückliegenden Olympischen Sommerspiele aufhalten. Eine Umkehr des aktuell negativen Trends muss unser Ziel sein, braucht aber sicher länger als nur einen olympischen Zyklus. Die Talente, die heute für Paris und nachfolgend für Los Angeles im Fokus stehen, kennen wir größtenteils schon. Alles, was wir jetzt verändern, zeigt seine Wirkung wohl frühestens für Los Angeles 2028, wahrscheinlich bis Brisbane 2032. Das liegt einfach daran, dass Strukturanpassungen verstärkt erst auf und über die nächsten Generationen wirken. Wer realistisch ist, wird akzeptieren müssen, dass die Probleme der letzten 5, 10 oder 15 Jahre nicht in den nächsten 9 bis 12 Monaten gelöst werden können. Ein komplexes System mit schwierigen Fragen erfordert deshalb auch differenzierte Antworten. Wenn sie einfach wären, hätte sie schon jemand gefunden. 

Welche Erwartungen knüpfen Sie an den laufenden Prozess zu einer möglichen deutschen Olympiabewerbung?   

Olympische Spiele im eigenen Land waren für Athletinnen und Athleten, Trainerinnen und Trainer, Verbände und auch für die Öffentlichkeit zumeist eine herausragende und nachhaltige Motivation. Es scheint eine Tradition in Deutschland zu sein, dass Großveranstaltungen immer erst kritisch gesehen werden und Widerstand erzeugen. Wenn es in der Vergangenheit soweit war haben deutsche Ausrichter immer gezeigt, zu welch herausragenden Events wir fähig sind. Frisch im Gedächtnis sind mir die European Championships im vergangenen Jahr und ich bin mir sicher, dass auch die Special Olympics World Games im Juni in Berlin und die EURO 2024 das unter Beweis stellen werden. Ein Blick auf die mit uns gesellschaftlich am ehesten vergleichbaren Gastgeber wie Australien oder Großbritannien macht deutlich, dass deren Leistungssport bis heute von den damaligen Impulsen profitiert hat. Ganz sicher strahlen Olympische und Paralympische Spiele aber auch auf uns alle, auf Breiten- und Schulsport aus. Wenn sie helfen, unser Land bewegter, aktiver und begeisterter zu machen, würde uns allen das gut tun.